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Vom Gratis-Kindergarten zum Leuchtturm

Jahrelang war ich stolz darauf die Starke zu sein. Die, die den Raum hält. Die, die versteht, wenn andere nur noch verwirrt sind. "Wie machst du das nur?", fragten mich Freunde und Partner oft bewundernd, wenn ich wieder einmal eines ihrer Dramen co-reguliert, analysiert und beruhigt hatte.

Ich dachte, das sei meine Superkraft. Ich dachte, das sei Liebe. Heute weiß ich: Es war eine perfekt inszenierte Überlebensstrategie. Ich hatte unbewusst einen "Gratis-Kindergarten" für die bedürftigen inneren Kinder von erwachsenen Menschen eröffnet. Und der Preis dafür war meine eigene Lebendigkeit.

Dies ist die Geschichte meiner Häutung – von der "Retterin", die ins kalte Wasser springt, zur "Königin", die am Ufer stehen bleibt.

 

Phase 1: Das Muster der "nützlichen Überlegenheit"

Mein Muster war subtil und verführerisch. Ich zog Menschen an – Partner, Freunde, Kollegen – die ein riesiges Potenzial hatten, aber tief in ihren Wunden feststeckten. Ich sah den "Löwen" in ihnen, auch wenn sie sich wie bedürftige "Babys" verhielten. Und ich begann zu arbeiten. Ich gab Verständnis, ich gab Energie, ich gab therapeutisches Wissen für all die bedürftigen inneren Kinder – oft ungefragt, oft kostenlos und oft bis ich erschöpft war.

 

Warum? Weil es mir Sicherheit gab. Solange ich die Kompetente, die "Heilerin" war, musste ich mich nicht meiner eigenen Bedürftigkeit stellen. Es war eine Form von "Bindung durch Nützlichkeit". Ich glaubte unbewusst: Ich darf nur sein, wenn ich helfe.

 

Fragen an dich:

  • Kennst du das Gefühl, dass du in Beziehungen mehr "arbeitest" als der andere?
  • Ziehst du Partner an, die "gerettet" oder "verstanden" werden wollen?
  • Fühlst du dich wertvoller, wenn du gebraucht wirst?

Phase 2: Der biologische Aufstand

Der Wendepunkt kam nicht durch den Kopf, sondern durch meinen Körper. Mein Nervensystem begann zu rebellieren. Trotz bester Gesundheit (und bestem Biohacking) fühlte ich mich nach Treffen ausgelaugt. Mein Körper reagierte mit Rückzug, mein Verstand nannte es "Freiheitsdrang". In Wahrheit war es Notwehr.

Ich erkannte: Mein innerer Raum war so vollgestellt mit den Dramen, Ängsten und Themen der anderen, dass meine eigenen inneren Anteile obdachlos waren. Ich hatte keinen Platz mehr für meine Gefühle, weil ich die "Container-Funktion" für mein Umfeld übernommen hatte.

Ich musste mir eingestehen: Ich kann dich nicht retten. Und ich will es auch nicht mehr. Nicht, weil ich herzlos bin. Sondern weil ich dir deine Würde nehme, wenn ich dein Schicksal für dich trage.

 

Fragen an dich:

  • Wie fühlt sich dein Körper an, wenn du an bestimmte Menschen denkst? Weit oder eng?
  • Wo sagst du "Ja" und lächelst, obwohl dein Bauch "Nein" schreit?

Phase 3: Der neue Stand – Das Leuchtturm-Prinzip

Ich habe in den letzten Wochen radikal aufgeräumt. Ich habe Beziehungen beendet, die auf Bedürftigkeit basierten. Ich habe berufliche Kooperationen gelöst, die mich klein hielten. Ich habe "Nein" gesagt, wo ich früher "Jaja, passt schon" gemurmelt habe.

Es war beängstigend. Mein altes Ich schrie: "Man wird dich für egoistisch halten! Du wirst Kritik aushalten müssen." Doch was eintrat, war Ruhe.

 

Ich lebe jetzt nach dem Leuchtturm-Prinzip: Ein Leuchtturm rennt nicht am Strand herum, um Schiffe zu suchen, die er retten kann. Er springt auch nicht ins Wasser, wenn ein Schiff in Not gerät – denn dann würde er selbst untergehen und niemandem mehr leuchten. Ein Leuchtturm steht fest auf seinem Fundament. Er dreht sich um seine eigene Achse. Er sendet sein Licht aus – kraftvoll und stetig. Die Schiffe auf dem Meer können sich an ihm orientieren. Oder auch nicht. Das liegt in ihrer Verantwortung.

 

Meine neue Realität:

  • Ich bleibe zu 70% bei mir und gehe zu 30% in den Kontakt.
  • Ich suche keine "Projekte" mehr, sondern Gefährten.
  • Ich biete meinen Raum nicht mehr als Abladeplatz an, sondern als Forschungsraum, den man nur mit Respekt (und Einladung) betritt.

Die Einladung an dich:

Vielleicht ist es auch für dich an der Zeit, das Schild "Gratis-Kindergarten" abzuhängen. Es ist nicht deine Aufgabe, die Welt zu tragen. Es ist deine Aufgabe, in deiner Kraft zu stehen. Das ist der größte Dienst, den du der Welt erweisen kannst.

Werde zum Leuchtturm. Das Fundament bist du selbst.

Hör dazu meinen Song: Die Wahrheit kommt wie Winterlicht.

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Kommentare: 1
  • #1

    Susanne (Sonntag, 28 Dezember 2025 21:27)

    Danke von Herzen fürs Teilhabenlassen an deiner aufrichtigen Reflexion! Du bist damit für andere Menschen wertvolle Inspiration - auch für mich und mein Thema, das gerade von mir aus verschiedenen Perspektiven betrachtet werden will.
    Alles Liebe!